--> Tag 6
In Pommritz gibt es zwar Straßen, jedoch nicht viele. Sie haben keine Namen. Hier sind die Häuser durchgezählt. Das Lebensgut hat die Adresse Pommritz 1 und es scheint tatsächlich die erste Adresse am Ort zu sein: Ich höre hier niemanden jammern und stöhnen, obwohl für die, die hier wohnen, keineswegs Urlaub ist, sondern Arbeitsalltag. Und es ist ein einziges Wachsen und Gedeihen: Schafe und Ziegen haben Junge, mein Abendessen sind heute nicht Vital-Kekse, vielmehr servieren mir die Sträucher Stachel-, schwarze, rote und weiße Johannis- sowie Himbeeren. Neben mir arbeitet eine pflanzliche Kläranlage. Der Strom kommt größtenteils vom Dach. Was es sonst noch gibt, ich bin gespannt...
In Pommritz gibt es zwar Straßen, jedoch nicht viele. Sie haben keine Namen. Hier sind die Häuser durchgezählt. Das Lebensgut hat die Adresse Pommritz 1 und es scheint tatsächlich die erste Adresse am Ort zu sein: Ich höre hier niemanden jammern und stöhnen, obwohl für die, die hier wohnen, keineswegs Urlaub ist, sondern Arbeitsalltag. Und es ist ein einziges Wachsen und Gedeihen: Schafe und Ziegen haben Junge, mein Abendessen sind heute nicht Vital-Kekse, vielmehr servieren mir die Sträucher Stachel-, schwarze, rote und weiße Johannis- sowie Himbeeren. Neben mir arbeitet eine pflanzliche Kläranlage. Der Strom kommt größtenteils vom Dach. Was es sonst noch gibt, ich bin gespannt...
Die Lebensgütler produzieren Käse aus
der Milch ihrer Ziegen, weit mehr als für den Eigenbedarf. Auch
backen sie mehr Brote, als sie selbst essen können. In den
umliegenden Ortschaften verkaufen sie auf Märkten. Auf dem Gut
selbst betreiben sie einen Bio-Laden, der das einzige
Lebensmittelgeschäft in Pommritz ist. Ein paar Arbeitsplätze für
Pommritzer, die keine Lebensgütler sind, gibt es auf dem Gut. Leider
werden für saisonal anfallende landwirtschaftliche Arbeiten auch
1-€-Jobber eingesetzt, was natürlich in keiner offiziellen
Darstellung des Lebensgutes nachzulesen ist, ich habe es Gesprächen
derer, die hier Heu gewendet haben, entnommen. Eine Töpferei gibt es
und einige Lebensgütler arbeiten auch jenseits des Gutes. Maik, ein
ehemaliger Mitarbeiter von Bahro, hat einen Lehrauftrag an der Uni
Zittau.
Man erlebt manchmal Lustiges. Ich gehe
hier in den Hofladen – alles bio, das meiste davon auch regional
und saisonal – und will mir etwas zum Essen kaufen, mein Proviant
ist nämlich verzehrt und außerdem will ich keine Vital-Kekse mehr.
Ich frage den Vereins-Vorstandsvorsitzenden, dem der Laden gehört
und der auch hinter dem Verkaufstisch steht, nach frischen
Milchprodukten. Er zeigt auf das Regal über dem Verkaufstisch auf
die dortigen Eier und sagt, Gemüse, Obst und Milchprodukte seien im
Keller. Kurzes irritiertes Blicketauschen, wobei der durchaus gößere
Teil der Irritation von mir kommt. Dann wird das Missverständnis
beseitigt: Er meint nicht, dass das Regal voller Eier der Keller ist,
vielmehr möge ich den Hof überqueren in der Richtung, die er
gezeigt hat, im dem Hofladen gegenüberliegenden Gebäude die weiße
Holztür öffnen, in den Keller gehen, mir nehmen, was ich möchte,
die Tür zum Keller/ Kühlraum wieder fest schließen und zum
Bezahlen in den Hofladen zurückkommen. Okay. Ich verstehe, befolge
und finde, was mein Gaumen, meine Kehle und mein Magen begehren. Die
Bio-Preise begehre ich nicht, bezahle dennoch. Spartanisch leben
werde ich hier müssen, denn mein Einkommen ist nicht bio.
Letzte Nacht habe ich hart gelegen und
kalt wurde es gegen Morgen auch. Da ich hier mehrere Nächte bleibe,
lohnt der Aufwand, das Schlaflager ein wenig gemütlicher zu machen.
Von dem gemähten Gras, das hier überall zum Trocknen liegt, das
längst fertig getrocknet ist (Heu), borge ich mir eine gehörige
Portion, schiebe sie unter mein Zelt und verteile sie dort
gleichmäßig. Das stellt einen Abstand zwischen feuchter Wiese und
Zeltboden her und sorgt so für eine zusätzlich isolierende
Luftschicht von unten, das Heu ist obendrein weich, so meine Idee. Ob
das eine gute Idee ist, wird sich kommende Nacht zeigen.
Erdbeeren. Wilde Erdbeeren habe ich
entdeckt und sogleich gekostet. Lecker!
Den Schlüssel zur hiesigen Bibliothek
und zur Philosophie-Lernwerkstatt hat mir der Lebensgut-Chef gegeben.
Ich hatte ihm lediglich auf seine Fragen, was mich nach Pommritz
getrieben hat und wie ich auf das Lebensgut aufmerksam geworden bin,
wahrheitsgemäß geantwortet mit: 1. meine Lust, mich mit Rudolph
Bahro zu beschäftigen, und was liegt näher, als dies an seiner
Wirkstätte zu tun, 2. über das Internet. Daraufhin gab er mir
freudig die Schlüssel mit den Worten: „Kannst dir hier alles
angucken. In der Bibliothek steht auch ein PC mit Internetzugang,
Passwort brauchst du nicht.“ Ich bin fassungslos. Woher rühren
diese Freude und die sorglose – er kennt mich ja überhaupt nicht –
Bereitschaft, mir individuellen Zugang zu den Räumen zu gewähren,
die üblicherweise nur im Rahmen von Führungen und unter Aufsicht betreten
werden dürfen? Hat er es sonst überwiegend mit Gästen zu tun, die
lediglich preisgünstig zelten und Party feiern wollen? Frustriert?
Ich bediene den Frust nicht und löse sein Gegenteil aus? Kann ich
mir eigentlich nicht vorstellen, aber der Urlaub ist auf jeden Fall
gerettet, selbst dann, wenn es morgen in Strömen zu regnen beginnen
sollte, wonach es im Moment allerdings nicht aussieht: sommerliche
Wärme, fast Hitze, kein Wölkchen in Sicht.
Die Bibliothek entpuppt sich als
enttäuschendes buntes Sammelsurium von allem Möglichen, nichts
Kostbares, Rares dabei. Etwas Spirituelles, etwas Religion, etwas
Staat und Recht, etwas Philosophie, etwas ökologischer Landbau...
Wahrscheinlich deshalb der laxe Umgang mit dem Schlüssel. Von Bahro
finde ich nur Schriften aus der Zeit, als er nicht mehr
wissenschaftlich arbeitete. Die „Alternative“ – antiquarisch
gibt es das Buch ja noch – werde ich besorgen und dem Lebensgut
spenden, die muss nun wirklich hierher in die „Pilger- und
Zukunktsbibliothek“, wie sie offiziell heißt.
Die Philosophie-Werkstatt ist wertvoll:
Zu unzähligen Philosophen und Denkschulen gibt es beeindruckende
Modelle und Erklärungen. Hier ließen sich mühelos mehrere Wochen
zubringen. Ich picke mir Wittgenstein heraus und überlasse die
anderen Modelle zunächst sich selbst. Mein diesjähriger Besuch auf
dem Lebensgut muss ja nicht der erste und letzte sein.
Die Schicht Heu unter meinem Zelt ist
eine richtig gute Idee: Weniger hart ist mein Nachtlager durch sie
nur geringfügig, aber warm. Ansonsten ist mein Zelt beschissen, zum
Glück nur von außen. Vermutlich hat auf dem Baum über ihm ein
Vogel mit Durchfall gesessen.
Der Nachbarort Hochkirch liegt auf
einem Berg und in der Mitte des Ortes auf dem Gipfel des Berges steht
die Kirche, weithin sichtbar. Hochkirch halt. Außer der Kirche gibt
es u.a. eine Edeka-Filiale, in der ich haltbare Lebensmittel ohne bio
kaufe und muss die kommenden Tage doch nicht spartanisch leben. Das
freut mich.
Bergab von Hochkirch nach Pommritz geht es ziemlich schnell. Beim Abbiegen in das Lebensgut fahre ich fast einen
Pommritzer Ureinwohner um, der unverhofft aus dem Gebüsch tritt.
„Entschuldigung“, sagt er. „Sie müssen sich nicht
entschuldigen“, erwidere ich grinsend. „Ich hätte Sie beinahe
überfahren.“ Er grinst zurück und fragt: „Zelten Sie hier?“
„Ja“, sage ich. Darauf er: „Ach ja, wurde mir schon erzählt,
dass hier 'ne Frau mit kurzen Haaren angekommen ist.“ Dorftratsch.
Wenigstens finden die Dörfler meine Haare komisch, nicht aber mein
Fahrrad!
Es dauert weniger als 5 Minuten
(gefühlt), sich mit einer Katze zu befreunden. Ich sehe sie im Gras
liegen und nähere mich ihr langsam. Sie steht auf, macht einen
Buckel, streckt ihren Schwanz steil in die Höhe und sträubt ihr
Fell. Anschließend kneift sie ihre Augen zu einem schmalen Schlitz
zusammen und ich tue mit meinen Augen dasselbe. Einen Moment später
liegen wir nebeneinander im Gras und handhaben unsere Freundschaft
arbeitsteilig: Ich kraule ihr Fell, sie schnurrt. Noch nie zuvor bin
ich mit einem mir wildfremden Wesen derart schnell vertraut geworden.
Durch bloßes Zugucken lerne ich, wie
ein Heuschober errichtet wird. (Gut, dass ich schon ausreichend Heu
unter meinem Zelt habe, jetzt liegt keines mehr herum.) Ein
Heuschober bedeutet für fünf erwachsene kräftige Menschen ca. drei
Stunden lang anstrengendste körperliche Arbeit. Wenn er fertig ist,
sieht er aus wie ein übergroßer Hexenbesen.
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