Auf nichts Unumstößliches stoßen Leserinnen und Leser in diesem Blog. Alles ist Überlegung, nichts Überlegenheit. Standpunkte sind springende Punkte und Punktlandungen selten.
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Mittwoch, 17. Juli 2013

Tage 7 + 8 Fahrradurlaub (nicht von, sondern mit ihm)

--> Tag 6

In Pommritz gibt es zwar Straßen, jedoch nicht viele. Sie haben keine Namen. Hier sind die Häuser durchgezählt. Das Lebensgut hat die Adresse Pommritz 1 und es scheint tatsächlich die erste Adresse am Ort zu sein: Ich höre hier niemanden jammern und stöhnen, obwohl für die, die hier wohnen, keineswegs Urlaub ist, sondern Arbeitsalltag. Und es ist ein einziges Wachsen und Gedeihen: Schafe und Ziegen haben Junge, mein Abendessen sind heute nicht Vital-Kekse, vielmehr servieren mir die Sträucher Stachel-, schwarze, rote und weiße Johannis- sowie Himbeeren. Neben mir arbeitet eine pflanzliche Kläranlage. Der Strom kommt größtenteils vom Dach. Was es sonst noch gibt, ich bin gespannt...

Die Lebensgütler produzieren Käse aus der Milch ihrer Ziegen, weit mehr als für den Eigenbedarf. Auch backen sie mehr Brote, als sie selbst essen können. In den umliegenden Ortschaften verkaufen sie auf Märkten. Auf dem Gut selbst betreiben sie einen Bio-Laden, der das einzige Lebensmittelgeschäft in Pommritz ist. Ein paar Arbeitsplätze für Pommritzer, die keine Lebensgütler sind, gibt es auf dem Gut. Leider werden für saisonal anfallende landwirtschaftliche Arbeiten auch 1-€-Jobber eingesetzt, was natürlich in keiner offiziellen Darstellung des Lebensgutes nachzulesen ist, ich habe es Gesprächen derer, die hier Heu gewendet haben, entnommen. Eine Töpferei gibt es und einige Lebensgütler arbeiten auch jenseits des Gutes. Maik, ein ehemaliger Mitarbeiter von Bahro, hat einen Lehrauftrag an der Uni Zittau.

Man erlebt manchmal Lustiges. Ich gehe hier in den Hofladen – alles bio, das meiste davon auch regional und saisonal – und will mir etwas zum Essen kaufen, mein Proviant ist nämlich verzehrt und außerdem will ich keine Vital-Kekse mehr. Ich frage den Vereins-Vorstandsvorsitzenden, dem der Laden gehört und der auch hinter dem Verkaufstisch steht, nach frischen Milchprodukten. Er zeigt auf das Regal über dem Verkaufstisch auf die dortigen Eier und sagt, Gemüse, Obst und Milchprodukte seien im Keller. Kurzes irritiertes Blicketauschen, wobei der durchaus gößere Teil der Irritation von mir kommt. Dann wird das Missverständnis beseitigt: Er meint nicht, dass das Regal voller Eier der Keller ist, vielmehr möge ich den Hof überqueren in der Richtung, die er gezeigt hat, im dem Hofladen gegenüberliegenden Gebäude die weiße Holztür öffnen, in den Keller gehen, mir nehmen, was ich möchte, die Tür zum Keller/ Kühlraum wieder fest schließen und zum Bezahlen in den Hofladen zurückkommen. Okay. Ich verstehe, befolge und finde, was mein Gaumen, meine Kehle und mein Magen begehren. Die Bio-Preise begehre ich nicht, bezahle dennoch. Spartanisch leben werde ich hier müssen, denn mein Einkommen ist nicht bio.

Letzte Nacht habe ich hart gelegen und kalt wurde es gegen Morgen auch. Da ich hier mehrere Nächte bleibe, lohnt der Aufwand, das Schlaflager ein wenig gemütlicher zu machen. Von dem gemähten Gras, das hier überall zum Trocknen liegt, das längst fertig getrocknet ist (Heu), borge ich mir eine gehörige Portion, schiebe sie unter mein Zelt und verteile sie dort gleichmäßig. Das stellt einen Abstand zwischen feuchter Wiese und Zeltboden her und sorgt so für eine zusätzlich isolierende Luftschicht von unten, das Heu ist obendrein weich, so meine Idee. Ob das eine gute Idee ist, wird sich kommende Nacht zeigen.

Erdbeeren. Wilde Erdbeeren habe ich entdeckt und sogleich gekostet. Lecker!

Den Schlüssel zur hiesigen Bibliothek und zur Philosophie-Lernwerkstatt hat mir der Lebensgut-Chef gegeben. Ich hatte ihm lediglich auf seine Fragen, was mich nach Pommritz getrieben hat und wie ich auf das Lebensgut aufmerksam geworden bin, wahrheitsgemäß geantwortet mit: 1. meine Lust, mich mit Rudolph Bahro zu beschäftigen, und was liegt näher, als dies an seiner Wirkstätte zu tun, 2. über das Internet. Daraufhin gab er mir freudig die Schlüssel mit den Worten: „Kannst dir hier alles angucken. In der Bibliothek steht auch ein PC mit Internetzugang, Passwort brauchst du nicht.“ Ich bin fassungslos. Woher rühren diese Freude und die sorglose – er kennt mich ja überhaupt nicht – Bereitschaft, mir individuellen Zugang zu den Räumen zu gewähren, die üblicherweise nur im Rahmen von Führungen und unter Aufsicht betreten werden dürfen? Hat er es sonst überwiegend mit Gästen zu tun, die lediglich preisgünstig zelten und Party feiern wollen? Frustriert? Ich bediene den Frust nicht und löse sein Gegenteil aus? Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen, aber der Urlaub ist auf jeden Fall gerettet, selbst dann, wenn es morgen in Strömen zu regnen beginnen sollte, wonach es im Moment allerdings nicht aussieht: sommerliche Wärme, fast Hitze, kein Wölkchen in Sicht.

Die Bibliothek entpuppt sich als enttäuschendes buntes Sammelsurium von allem Möglichen, nichts Kostbares, Rares dabei. Etwas Spirituelles, etwas Religion, etwas Staat und Recht, etwas Philosophie, etwas ökologischer Landbau... Wahrscheinlich deshalb der laxe Umgang mit dem Schlüssel. Von Bahro finde ich nur Schriften aus der Zeit, als er nicht mehr wissenschaftlich arbeitete. Die „Alternative“ – antiquarisch gibt es das Buch ja noch – werde ich besorgen und dem Lebensgut spenden, die muss nun wirklich hierher in die „Pilger- und Zukunktsbibliothek“, wie sie offiziell heißt.

Die Philosophie-Werkstatt ist wertvoll: Zu unzähligen Philosophen und Denkschulen gibt es beeindruckende Modelle und Erklärungen. Hier ließen sich mühelos mehrere Wochen zubringen. Ich picke mir Wittgenstein heraus und überlasse die anderen Modelle zunächst sich selbst. Mein diesjähriger Besuch auf dem Lebensgut muss ja nicht der erste und letzte sein.

Die Schicht Heu unter meinem Zelt ist eine richtig gute Idee: Weniger hart ist mein Nachtlager durch sie nur geringfügig, aber warm. Ansonsten ist mein Zelt beschissen, zum Glück nur von außen. Vermutlich hat auf dem Baum über ihm ein Vogel mit Durchfall gesessen.

Der Nachbarort Hochkirch liegt auf einem Berg und in der Mitte des Ortes auf dem Gipfel des Berges steht die Kirche, weithin sichtbar. Hochkirch halt. Außer der Kirche gibt es u.a. eine Edeka-Filiale, in der ich haltbare Lebensmittel ohne bio kaufe und muss die kommenden Tage doch nicht spartanisch leben. Das freut mich.

Bergab von Hochkirch nach Pommritz geht es ziemlich schnell. Beim Abbiegen in das Lebensgut fahre ich fast einen Pommritzer Ureinwohner um, der unverhofft aus dem Gebüsch tritt. „Entschuldigung“, sagt er. „Sie müssen sich nicht entschuldigen“, erwidere ich grinsend. „Ich hätte Sie beinahe überfahren.“ Er grinst zurück und fragt: „Zelten Sie hier?“ „Ja“, sage ich. Darauf er: „Ach ja, wurde mir schon erzählt, dass hier 'ne Frau mit kurzen Haaren angekommen ist.“ Dorftratsch. Wenigstens finden die Dörfler meine Haare komisch, nicht aber mein Fahrrad!

Es dauert weniger als 5 Minuten (gefühlt), sich mit einer Katze zu befreunden. Ich sehe sie im Gras liegen und nähere mich ihr langsam. Sie steht auf, macht einen Buckel, streckt ihren Schwanz steil in die Höhe und sträubt ihr Fell. Anschließend kneift sie ihre Augen zu einem schmalen Schlitz zusammen und ich tue mit meinen Augen dasselbe. Einen Moment später liegen wir nebeneinander im Gras und handhaben unsere Freundschaft arbeitsteilig: Ich kraule ihr Fell, sie schnurrt. Noch nie zuvor bin ich mit einem mir wildfremden Wesen derart schnell vertraut geworden.

Durch bloßes Zugucken lerne ich, wie ein Heuschober errichtet wird. (Gut, dass ich schon ausreichend Heu unter meinem Zelt habe, jetzt liegt keines mehr herum.) Ein Heuschober bedeutet für fünf erwachsene kräftige Menschen ca. drei Stunden lang anstrengendste körperliche Arbeit. Wenn er fertig ist, sieht er aus wie ein übergroßer Hexenbesen.

--> Tag 9

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